Gastartikel von Simon Baer: Lost Places – Faszination Verfall

Lost Places, also verlassene/vergessene Orte, stellen einen ganz besonderen Reiz dar und sind für viele Menschen, ganz besonders für Fotografen, von ungebrochener Faszination. Ich bin einer von ihnen. Einer von diesen Leuten, die oft sehr lange und ausgiebig im Internet nach solchen Locations suchen, gemeinsam mit anderen Fotografen mehrtägige Touren quer durch Deutschland planen, die Gebäude aufsuchen und vor Ort hoffen, einen Eingang zu finden. Steht man dann mal drinnen, in einem dieser oft gigantischen und geschichtsträchtigen Gebäude, dann hat sich der ganze Aufwand gelohnt. Im folgenden möchte ich über die vorausgehende Recherche, das eindringen in die Locations und die Faszination und großartige Atmosphäre, aber auch über die Gefahren vor Ort schreiben und berichten.

Ich muss zugeben: Auf die Sache mit den Lost-Places bin ich nicht allein gekommen. Vor grob zwei Jahren sah ich die wirklich großartigen Fotos eines Klassenkameraden (besser gesagt die des in der „Lost Places-Szene“ relativ bekannten Daniel Schmitt‘s), der die verlassene Heilstätte Beelitz besucht hatte. Ich war gleich sehr fasziniert und interessiert – auf die nächste Lost Places-Tour durch Lothringen ging ich einfach mit – samt Kamera. Mittlerweile sind wir nicht mehr nur Klassenkameraden, sondern sehr gute Freunde und gehen mehrmals im Jahr gemeinsam auf Lost Places-Tour in Deutschland oder sogar im Ausland.

Vor dem Beginn einer solchen Tour sind einige Dinge zu planen und zu bedenken, im Mittelpunkt steht aber natürlich die zeitaufwendige Suche nach möglichst nah aneinander gelegenen Locations. Leider muss man, zumindest in meinem Fall, mit Fahrstrecken von mehreren Stunden rechnen, denn in der Umgebung von Stuttgart und generell in Baden-Württemberg finden sich, wenn überhaupt, nur wirklich kleine und unspektakuläre Locations. Die ganzen Kasernen, zum Beispiel, wurden alle nach Abzug des Militärs entweder sofort abgerissen oder umfunktioniert. In Brandenburg, Thüringen oder Sachsen sieht die Sache schon ganz anders aus.

Man fängt also an zu suchen und zu recherchieren, findet einige Locations und genaue Hintergrundinformationen dazu relativ einfach über Datenbanken im Internet, bei vielen Locations gestaltet sich das ganze aber auch um einiges schwieriger. Oft hat man nur einzelne Fotos, sucht dann nach dem zugehörigen Fotografen und versucht Kontakt herzustellen. An dieser Stelle ein kleiner Appell. Ein stupides: „Hey, geile Fotos. Gib mal die Koordinaten!“ führt nie zum gewünschten Ziel. Wirklich niemand wird die Koordinaten zu einer tollen Location herausrücken wenn man sich nicht sicher sein kann, dass der Anfragende mit „friedlichen Absichten“ die Location aufsuchen will. Der Zustand vieler einst tollen Lost Places hat sich durch Vandalismus im großen Maße wirklich sehr verschlechtert. Also gilt: Bei Anfragen am besten die eigene Website mitschicken und/oder Koordinaten zum Tausch anbieten. So erkennt das Gegenüber schnell, dass es sich um jemanden handelt, der die Lost-Places zu schätzen weiß und den Grundsatz „Nichts mitnehmen, nichts ändern, nichts zerstören“ kennt.

Was auch immer einen Versuch wert ist: Im Voraus den Eigentümer einer Location kontaktieren und nach einer Genehmigung fragen. Das klappt öfter als man denkt und ist auch wirklich ratsam – immerhin handelt es sich ohne Genehmigung streng genommen um Hausfriedensbruch. Der Wachdienst, sofern auf dem Gelände präsent, findet das meist nicht allzu lustig. Manchmal geht‘s aber auch nicht anders und man „muss“ ohne Genehmigung versuchen, in die Gebäude zu kommen. Das sollte gut überlegt und durchdacht sein.

Gut durchdacht sollte auch die Auswahl der Ausrüstung sein. Klar, eine helle Taschenlampe, Kleidung die auch mal dreckig werden darf und feste Schuhe gehören selbstverständlich dazu, aber manche Locations erfordern auch mehr. Es gibt Orte, die dermaßen verschimmelt oder voller Chemikalien sind, dass ein Atemschutz sehr zu empfehlen ist.

Die Wahl der richtigen Fotoausrüstung ist allerdings nicht allzu schwer. Klar sollte sein: Ohne Stativ geht gar nichts. Oft sind in den Gebäuden viele Fenster zugenagelt oder zugemauert, um Langzeitbelichtungen kommt man deshalb meist nicht herum. Ein Ultraweitwinkel ist sehr zu empfehlen, anders ist es kaum möglich die Atmosphäre in den oft sehr großen Räumen festzuhalten. Aus eigener Erfahrung: Genügend volle Akkus mitnehmen! Aufladen geht meist erst wieder abends im Hotel und gerade bei der intensiven Nutzung von Live-View hält ein Akku oft nicht einen ganzen Tag durch. Ganz nach Murphy‘s Law versagt der Akku nämlich immer dann, wenn‘s am schönsten ist – sehr ärgerlich.

Steht man dann erst mal nach langer Fahrt in einem tollen Lost Place, dann hat sich der ganze Aufwand zuvor gelohnt. Die Atmosphäre ist meist einfach unglaublich und unbeschreiblich. Faszination, Staunen, Ehrfurcht aber auch ein bisschen Angst wechseln sich ständig ab und machen das ganze zu einer wirklich großartigen Erfahrung. Die oft riesigen Gebäude und Areale stundenlang und ausführlich zu erkunden macht wirklich unglaublichen Spaß. Gerade wenn man die geschichtlichen Hintergründe kennt und dann auch noch zurückgelassene Gegenstände und Utensilien findet, ist das ganze wirklich sehr spannend. Seien das die unzähligen Schulbücher und Unterlagen einer ehemaligen SSD-Parteischule, der Operationsstuhl inklusive großer Deckenlampe eines verlassenen Krankenhauses, Offiziersmützen in einer ehemaligen russischen Kaserne, der Kontrollraum eines Kraftwerks voller Instrumente oder der große Kinosaal in einer, von Hermann Göring errichteten, Fliegerschule der Nazis. Doch trotzdem ist Vorsicht geboten – viele der Gebäude befinden sich nicht gerade in einem sonderlich guten Zustand. Heruntergebrochene Decken oder gar ganze Etagen sind ein eindeutiges Signal dafür, dass man die eigene Neugier zurückstellen und an die eigene Sicherheit denken sollte. Scherben, sonstige spitze oder scharfkantige Gegenstände und nur durch klettern überwindbare Hindernisse machen das ganze nicht gerade ungefährlicher. Alleine sollte man sowieso nie unterwegs sein – im Notfall sollte es immer jemanden geben, der Hilfe holen kann.

Doch trotz aller Gefahren – die besondere Atmosphäre in seinen Fotos festzuhalten und durch nachträgliche Bearbeitung noch zu verstärken – das ist es, was „Urban Exploring“ so spannend macht. Die Art der Bearbeitung geht dabei weit auseinander und ist von Fotograf zu Fotograf unterschiedlich. Manche Fotografen bearbeiten ihre Fotos nachträglich gar nicht, andere erstellen ausschließlich HDRs mit sehr starkem Tonemapping. Von letzterem bin ich nicht gerade ein Fan, in meinen Augen zerstört ein übertriebenes HDR die Atmosphäre und vor allem die gegebene Lichtsituation beinnahe komplett. Ich persönlich versuche, die Lichtsituation beizubehalten. Dunkle, düstere Orte dürfen auch auf meinen Fotos dunkel und düster wirken, lichtdurchflutete Gänge und Zimmer sollen auch so bleiben. Generell passe ich meine Fotos nach dem importieren in Lightroom erst grob an (Belichtung, Kontrast, Dynamik, Sättigung) und bearbeite sie anschließend in Photoshop. Eine Art „Standardbearbeitung“ habe ich dabei allerdings nicht. Vielen Fotos gebe ich einen leichten Retro-Look, bei manchen entscheide ich mich für eine S/W-Bearbeitung und bei manchen mache ich in Photoshop nur noch minimale Anpassungen.

Abschließend lässt sich sagen: Der Besuch der Locations ist nicht ungefährlich, es sind im Voraus oft zeitaufwendige Planungen und Vorbereitungen zu treffen und oft kommt zusätzlich eine lange Anreise hinzu. Doch es lohnt sich, glaubt mir. Wer Vorsicht walten lässt und sich zudem an den oben genannten Grundsatz „Nichts mitnehmen, nichts ändern, nichts zerstören“ hält, garantiert sich selbst und allen anderen, noch folgenden Fotografen ein unvergessliches Erlebnis.

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